Warum Bidens Rede im Kongress so griffig ist
Biden ist ein großartiger Redner - aber er hat auch phantastische Autoren. Von seiner Rede im Kongress kann man wieder viel lernen, doch ich will mich heute auf einen Aspekt beschränken: Die Textur.
Textur bedeutet: Der US-Präsident streut immer wieder Beispiele und nutzt, wenn er keine Beispiele zur Hand hat, ganz konkrete Sprachbilder. Das verleiht dem Text eine Unmittelbarkeit, eine geriffelte Oberfläche, die ihn griffig macht - und damit von abstraktem Politsprech (“Digitalisierung voranbringen”) unterscheidet. Die New York Times hat erfreulicherweise ein Transkript veröffentlicht.
Biden nennt die Impferfolge, aber belässt es nicht bei Zahlen. Ist es viel oder wenig, wenn Impfstoffe 40000 Apotheken und 700 Gemeinden erreichen? Keine Ahnung! Der Zuhörer weiß nicht, wie viele Apotheken es im Land gibt. Biden sagt deshalb noch etwas anderes:
90 percent of Americans now live within five miles of a vaccination site
Das versteht wirklich jeder!
Ebenso:
And more than half of all the adults in America have gotten at least one shot.
Wie in einem Kinofilm
Er spricht nicht abstrakt davon, dass die Impfkampagne dem Land “auf die Beine helfe” oder ähnliches. Er zoomt heran auf den einzelnen Menschen, auf die Mimik, quasi die Kindermünder. Es ist wie in einem Kinofilm mit präziser Kameraführung:
Parents seeing the smiles on the kids’ faces, for those who are able to go back to school because the teachers and the school bus drivers and the cafeteria workers have been vaccinated.
Biden spricht von einer alleinerziehenden Mutter in Texas, die ihm geschrieben habe, dass die Impfung sie wieder arbeiten lässt und sie deshalb nicht aus ihrer Wohnung geworfen wurde. Das pars pro toto - zeige ein Detail und die Aussage gewinnt an Wucht.
Auch das Wirtschaftswachstum erklärt Biden in konkreten Bezügen, zu denen jeder Mensch ohne jedes ökonomisches Wissen einen eigenen Bezug aufbauen kann:
That will be the fastest pace of economic growth in this country in nearly four decades.
Jeder Erwachsene kann grob die letzten erlebten 40 Jahre überschlagen.
Das vielleicht heißeste Eisen, die Klimapolitik, erzählt Biden als Geschichte auf dem Weg in die Vollbeschäftigung. Das ist nicht neu. Neu ist, wie er diesen Punkt macht (I.B.E.W. ist eine Gewerkschaft):
Electrical workers, I.B.E.W. members, installing 500,000 charging stations along our highways so we can own the electric car market.
Wer hat jetzt nicht das Bild eines Menschen im Overall vor Augen, der an einem Highway herumbastelt und damit sein Geld verdient?
Ein Sprachbild zum Weiterreichen
Biden greift die Angst auf, dass diese Jobs nur den Höherqualifizierten helfen würden. “Can I fit in?” fragt Biden im Namen seiner zweifelnden Zuhörer. Er fährt fort mit Statistiken und Prognosen - soweit, so normal, so lasch. Dann kommt ein geradezu verspieltes Sprachbild:
The American Jobs Plan is a blue-collar blueprint to build America. That’s what it is.
“Blue Collar” ist ein in Amerika allgemein bekannter Begriff für den Arbeiter - im Gegensatz zum “White Collar”, dem Akademiker. Der Blueprint ist der Bauplan. Blue-collar blueprint: So etwas bleibt im Gedächtnis, es schafft eine bildhafte Verbindung zwischen Plan und Umsetzung. Und wegen der sprachlichen Ästhetik ist es griffig, wird also weitergereicht in sozialen und klassischen Medien.
Bei der Gesundheitspolitik stellt Biden den Bezug zu seinem an Krebs verstorbenen Sohn her. “Ich-Botschaft” nennen das Rede-Trainer. Es schafft Authentizität und, wieder, Bilder.
I’ll never forget you standing, Mitch, and saying, name it after my deceased son. It meant a lot.
Wer glaubt Biden nicht, wenn er sagt, er könne sich keine wertvollere Investition vorstellen?
Seine Bildungsvision stellt Biden nicht einfach vor. Er kleidet sie wieder in einen Dialog mit seiner Frau Jill:
She’s long said — if I heard it once, I’ve heard it a thousand times. “Joe, any country that out-educates us is going to outcompete us.”
Wer hat jetzt nicht das Bild von Jill und Joe im Kopf, die sich am Esstisch über Politik unterhalten?
Als er darüber spricht, wie er mit George Floyds Tochter Gianna spricht, zitiert er nicht nur das Gespräch. Er beschreibt, wie er sich zu ihr herunterkniet. Das ist wichtig, kein Zierrat! Es schafft Bilder im Kopf!
She’s a little tyke, so I was kneeling down to talk to her, so I can look at her in the eye. She looked at me, she said, “My daddy changed the world.”
Das ist nur ein Aspekt, der Bidens Sprache von den üblichen Rednern in Deutschland unterscheidet: Textur, Griffigkeit durch Bilder.
Natürlich nutzt Biden auch hier Wiederholungen, demonstriert bei nahezu jedem Themenabschnitt Empathie und spricht aus der Perspektive seines Publikums. Übrigens: Ebenso wie Markus Söder oft mit “Schauen’s” beginnt, startet Biden vier Mal in seiner Rede mit “Look,…”. Es ist eine besänftigende, aber bestimmte Marotte - so wie man zu jemandem spricht, den man wirklich überzeugen will.
(Das ist diesmal ein hektisch geschriebener Text - wie immer bin ich dankbar für Korrekturen und Anmerkungen!)